Freitag, 15. April 2022

standing here on the ground

INXS: eine andere Geschichte___

INXS: standing here on the ground

 
Der Kerl auf dem Motorrad trägt eine Sonnenbrille, mitten in der Nacht, dazu einen langen, grünen Mantel mit aufgestelltem Kragen und er sieht unfassbar cool aus. Es ist Michael Hutchence und seine Band, Inxs, fährt mit ihm gemeinsam im Video des dazugehörigen Songs Original Sin, durch die Kulisse einer japanischen Großstadt. Das alles macht 1984 unfassbaren Eindruck auf mich, als ich das Video quasi im Vorbeifliegen zuhause im Fernsehen sehe. Es wirkt seltsam exotisch und anziehend aber gleichzeitig auch so unerreichbar weit weg. Hutchence singt „you might know of the original sin” und vielleicht meint er damit, im Popformat zitiert, die biblische Erbsünde, die Versuchung, der Adam und Eva im Garten Eden erliegen. Generell aber, stellt Hutchence in einem Interview klar, geht es darum, wie sich junge Erwachsene mit eigenen Vorstellungen ins Leben wagen. 

Aber es sind nicht allein die Bilder, die mich begeistern. Es ist auch dieser knackige Sound und die fernöstlich gestimmte Melodie, dazu der fiebrige Gesang, der mich noch so viele Jahre begleiten soll. Zwar scheint nahezu jeder Song in diesen pophimmlischen Zeiten ein unwiderstehlicher Hit. Dieser aber von Inxs strahlt noch etwas anderes aus, was vielleicht nur ich so empfinde: eine sehnsüchtige, fast unstillbare Form von Fernweh. Das verbinde ich lange mit ihnen und ihrer Musik, diese große Freiheit, unterwegs zu sein, auf Reisen und hin zu Orten, die es auch nur mal in der Fantasie gibt. Vielleicht verbinde ich dieses Fernweh auch so früh mit dieser Band, weil sie selbst aus der Ferne stammen, aus Australien. Und was weiß ich schon, 1984, als gerade einmal 13jähriger, von diesem Land. „Have an australian on a bill“, sagt Hutchence einmal gutgelaunt auf einem Konzert auf der deutschen Loreley, 1997 im strömenden Regen, „you get a real summershow“. Nur wenige Wochen später ist er tot und dass ist das Ungerechte an dieser Geschichte, das sie so tragisch enden soll. „Then wake up to a brand new day, to find your dreams are washed away” heißt es weiter in Original Sin. Diese Band und dieser Sänger haben mir sehr lange sehr viel bedeutet.

Zwei Jahre später trägt mich wieder einer ihrer Songs weit weg. Im Video zu Kiss The Dirt stehen sie inmitten einer endlosen Wüstenlandschaft, die Sonne brennend am Firmament. Ihre Stiefel wirbeln den rötlichen flackernden Sand auf und von irgendwoher kommt ein Zug angefahren, während die Band mit ihren Instrumenten vor einem bedenklich auflodernden Feuer posiert. Wieder ist die Energie zum Greifen nah und mit ihr einmal mehr auch dieses wild-romantische Fernweh, der Wunsch, sofort aufbrechen zu können, ganz egal wohin. Ich kaufe mir das dazugehörige Album Listen Like Thieves und auch noch The Swing, den Vorgänger, auf dem Original Sin enthalten ist. Die Songs beider Platten, in all ihrer Unterschiedlichkeit, hallen lange durch mein Jugendzimmer, hinüber zu den Nachbarn und bei geöffnetem Fenster weit hinaus in die nähere Umgebung.  Noch sind Inxs zu dem Zeitpunkt leidlich bekannt in Deutschland aber für mich sind sie die Band der Stunde. Viel später sehe ich einen Liveauftritt genau jener Jahre, den sie im Rahmen des Rocking The Royals-Events 1985 in Melbourne spielen und für mich ist genau das DER Auftritt einer Rockband der achtziger Jahre schlechthin. Es ist die pure entfesselte Schönheit.  

Mit dem Album Kick wird 1987 alles anders und die Band zur Superlative. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, mich in solchen Momenten abzuwenden, bleibe ich am Ball. Ich bin ja längst mittendrin im Bandkosmos, warum also sollte ich gerade jetzt wieder aussteigen, wo sie so tolle Songs am Start haben? „All veils and misty, streets of blue”, singt Hutchence in Mistify, dieser modernen, wie besessen aufgeladenen Blues-Nummer, die ich eines Abends im Auto nach einer eigenen Bandprobe höre. Wir wissen, dass wir nicht so einen Frontmann wie ihn an unserer Seite haben, aber die Euphorie ist ungebrochen. Und während ich aus dem Fenster blicke und die Lichter über den Fluss meiner Heimatstadt breit schimmern sehe, fließt alles in einem Rauschen vorbei. „I need perfection, some twisted selection”. Immerhin dieser Moment steht. Man muss sich schütteln im Sommer 1987, um all die Energie, die von dieser Platte ausgeht, geregelt zu bekommen. U2 mit ihrem charismatischen Frontmann Bono bringen im selben Jahr Pathos in den Pop, in den elegischen Songs des  Albums The Joshua Tree. Michael Hutchence aber hat den Glamour. Und dieser ist rau, aufgedreht und auch ein wenig verwegen. „Sometimes you kick!“ posaunt er hinaus, breit grinsend. Sometimes you get kicked!” Fast so wie im richtigen Leben.

In den neunziger Jahren gerät die Musik von Inxs etwas in den Hintergrund. Als die Band 1991 in Wembley spielt, auf dem kommerziellen Höhepunkt ihres Erfolgs, ist Hutchence für die Medien vor allem der Superstar, der sich mit wechselnden Partnerinnen an seiner Seite sehen lässt. Musikalisch sind nach dem eher lauen Album X nun andere Bands am Drücker. Die Alternative- und Grungebewegung lässt die Australier wie edel polierte Stars von gestern erscheinen und auch ich habe längst neue Favoriten. Mein Faible für tolle Frontleute bleibt zwar, aber sie alle schauen nun weitaus grimmiger drein. Glamour ist längst zum Unwort verkommen. Dabei bleiben mir Inxs auch weiterhin wichtig und das nun bestimmte Attribute nicht mehr gelten sollen, empfinde ich als kleinlich. Vielleicht aber bin ich auch schon nicht mehr im richtigen Alter, mit zwanzig Jahren, um das beurteilen zu wollen. Denn im Vergleich zu Kurt Cobain, ist Michael Hutchence für mich, nicht nur im Rückblick, der weitaus wichtigere Rockstar.

Ein gemeinsames Abenteuer steht uns auch noch bevor und diesmal nehme ich die Band mit auf Reise. Auf einer mehrwöchigen Tour durch Griechenland ist das 1992 veröffentlichte Welcome To Wherever You Are ist mein persönlicher Soundtrack. Die Band klingt nach X nun wieder deutlich ungestümer und Hutchence fragt „how can you stop when you don´t know how to start”. Währenddessen lasse ich die Landschaft an mir vorbeifliegen, all die hübschen dunkelhaarigen Mädchen und welche Musik, ja welche Band könnte in solchen Momenten besser passen? In diesen Wochen denke ich oft, dass die Zeit einfach stehenbleiben könnte. Alles scheint so unfassbar weit weg und habe mich seit Wochen nicht zuhause gemeldet. Die Songs von Welcome scheinen wie gemacht für ein Abenteuer, das in jeder Note nach Weite und Freiheit schmeckt. Und genau dort, auf einer der Inseln der südlichen Ägäis, lasse ich die Band auch zurück. Diese Intensität, schwant mir, lässt sich in diesem Ausmaße unmöglich an einen anderen Ort transportieren. Was mit den Songs von The Swing einst in meinem Kinderzimmer begann, soll mit Welcome nun hier, fern der Heimat, enden. Diese beiden Platten sind bis heute auch meine liebsten der Band.

Viele Jahre später, im Herbst 1997, bin ich mit meiner Freundin im Auto auf dem Weg nach Hause und höre Radio. Vor einigen Monaten haben Inxs eine neue Platte veröffentlicht. Elegantly Wasted heißt sie und ich finde, dass kein Titel besser auf diese Band passen könnte als genau dieser. Und doch bin ich nur verhalten neugierig. In Interviews wirkt Michael Hutchence seltsam zurückhaltend. Er trägt die Haare noch lang aber geglättet und mir fällt auf, dass ich ständig versuche, den alten Glamour an ihm wiederzuentdecken. Bei ihrem Auftritt auf der Loreley im Sommer des Jahres dagegen wirken sie so energetisch wie gewohnt, auch wenn sie mittlerweile ein wenig verlebter aussehen. Aber wenn nicht Inxs, wer soll dann schon noch Rock´n Roll sein, in diesen Tagen. U2 hadern noch immer mit den moralischen Grenzen als Rockstars und Kurt Cobain ist längst gestorben. 

Wir biegen mit dem Auto in unser Viertel, als ich das Radio reflexartig lauter drehe. Ich kann nicht glauben, was ich da höre. Es heißt, dass Michael Hutchence in einem Hotelzimmer in Sydney tot aufgefunden wurde, gerade einmal 37 Jahre alt. Niemals denke ich, nicht Hutchence, der für mich das pralle Leben des Rock´n Roll verkörpert, wie kaum ein zweiter Musiker. Nein, nicht er, der vielleicht beste Frontmann, den es gibt, wie ich bereits meinen jüngeren Freunden stets vorhalte, wenn sie mir wieder mit einem ihrer hippiesken Slackervorbildern kommen wollen. Noch schlimmer sind in den folgenden Tagen die näheren Hintergründe zu seinem Tod. Es scheint, dass mit einem Schlag das ganze Bild dieses so großartigen Sängers und Performers in sich zusammenfällt. Für mich haben Inxs und speziell ihr Frontmann immer so viel positive Energie versprüht, dass mich die Meldungen über Drogen und sonstige Eskapaden fast ein wenig überfahren. In einer heute kaum mehr vorstellbaren Welt ohne soziale Medien, blieben einem solche Hintergründe dankenswerter Weise oft verborgen. Nur das Mysterium, das ein Künstler von sich selbst zeichnete zählte, und das, was man gewillt war anzunehmen oder eben nicht. Ich merke, dass ich an dem ganzen Bild Hutchences, also an der vermeintlichen Wahrheit, gar nicht wirklich interessiert bin und dafür bin ich auch dankbar. Ich will an der Illusion festhalten, die er mir so lange als Rockstar verkauft hat. Diese ist unbezahlbar.

Und doch kann ich eine ganze Weile die alten Platten dieser Band nicht mehr so unbeschwert hören wie einst. Es dauert, bis irgendwann der Beigeschmack der Schlagzeilen vorbei ist. Als dies wieder gelingt, entdecke ich auch endlich ein ganz frühes Album von ihnen, Shabooh Shoobah.  Sofort höre ich wieder diese große Freiheit heraus, die ich immer schon mit ihnen verbunden habe, so wie beim ersten Mal, 1984. „I´m standing here on the ground“ singt Hutchence in Don´t Change, ihrem ersten Hit, “the sky above won´t fall down”. Was für eine wunderbare, ungezügelte Energie von dieser Band schon damals ausging, so als könne man sich jederzeit von allem freimachen. Dieser Gedanke wirkt versöhnlich. Jahre nach Hutchences Tod sehe ich ein Interview mit Bono von U2, in dem er ein wenig gerührt erzählt, wie sehr er diesen Menschen, Michael Hutchence, mit dem er auch befreundet war, vermissen würde. Wie sehr er dessen Kraft und Ausstrahlung bewunderte, die auf der Bühne von ihm ausging. Einmal, so Bono, habe er Hutchence gefragt, worum es ihm eigentlich auf der Bühne gehen würde, was Rock´n  Roll für ihn tatsächlich bedeutet und Hutchence habe ihm geantwortet, dass es ihm um Befreiung gehen würde, einzig und allein um Befreiung. 
 
Questions - Heaven Sent - Original Sin - Listen Like Thieves - Devil Inside - Love Is (What I Say) - By My Side - Kick - Time - Kiss The Dirt (Falling Down The Mountain) - Disappear - Beautiful Girl - Johnson´s Aeroplane - To Look At You - Hear That Sound - Baby Don´t Cry - Mystify - This Time - Dancing On The Jetty - Searching - Strange Desire - Mediate - Perfect Strangers - Freedom Deep - Biting Bullets - Never Tear Us Apart - Don´t Change - God´s Top Ten - Men And Women
Rauschen Story 31

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